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Sicher habt ihr den Ausdruck “jemand geht über Leichen“ schon einmal gehört. Damit meint man eine Person, die vor nichts zurückschreckt, um ihr Ziel zu erreichen. Man unterstellt ihr, dass sie sogar jemanden töten würden, wenn sie das weiterbringen würde.

Genauso eine Person war Angulimala, der zu Buddhas Zeiten Straßen und Wälder unsicher machte. Er lebte vor 2500 Jahren, zu der Zeit des Buddha. Sie ist im Angulimala Theragatha überliefert, Andrea Liebers hat sie für euch nacherzählt. Die Illustrationen stammen von Tabea Krackow. Warum Angulimala nicht für seine Taten in der Hölle büßen musste, liegt daran, dass er sie zutiefst bereut hat.

 

Ein Mörder namens Fingerkette

 

Fingerkette, Illustration Tabea KrackowAngulimala lag in dem dichten dunklen Jalini-Wald auf der Lauer. Versteckt im Gebüsch auf einer Anhöhe hatte er die einzige Straße, die durch den Wald führt, gut im Blick. Er strich über die Kette, die um seinen Hals baumelte. Ein unangenehmer Geruch ging von ihr aus. Denn auf ihr waren schließlich 999 Finger, die er von getöteten Menschen abgeschnitten hatte, aufgefädelt. Doch das machte ihm nichts aus. Im Gegenteil: der Geruch von Verwesung ließ ihn lächeln. Nur noch ein Mord, dann würde er es geschafft haben. Er träumte vor sich hin, und sah sich schon mit seiner Kette von 1000 Fingern durch das Tor der Universität eilen, an der er studiert hatte. Dummerweise war er zu der letzten Prüfung nicht zugelassen worden, obwohl er der beste seiner Klasse gewesen war. Sein Professor hatte ihm gesagt: „Bring mir eine Fingerkette von 1000 frisch getöteten Menschen! Dann darfst du die Prüfung ablegen und bekommst die Urkunde!“

„Bald habe ich es geschafft!“, sagte Angulimala lächelnd zu einem Vogel, der sich gerade vor ihm auf einen Zweig niedergelassen hatte. „Wenn ich den 1000. Finger habe, dann muss der Professor mich zulassen!“ Mit lautem Flügelschlagen flog der Vogel davon. Angulimala riss sich aus seinem Tagtraum und schaute zur Straße.

Fingerkette, Illustration Tabea KrackowDa kam tatsächlich jemand entlang gelaufen. Angulimala tastete mit seiner Hand nach dem Bogen, der neben ihm auf dem Boden lag. Vielleicht könnte er heute Abend schon vor den Toren der Universität sein, überlegte er freudig.

Seine Miene verdüsterte sich etwas, als er erkannte, dass es seine Mutter war, die dort unten auf dem Weg unterwegs war.

„Ahimsaka!“, rief sie laut. „Wo steckst du? Man hat mir gesagt, dass du dich hier aufhälst!“

Angulimala schluckte, als er seinen richtigen Namen hörte. „Mist!“, meinte er. „Muss ausgerechnet heute meine Mutter nach mir suchen!“

Fingerkette, Illustration Tabea KrackowDoch da stieg ihm wieder der faulige Geruch in die Nase und er erinnerte sich daran, dass er kurz vor seinem Ziel war. „Meine Mutter wird sich sicher freuen, wenn ich endlich die Prüfung ablegen und die Urkunde haben kann!“, ging es ihm durch den Kopf. Er spannte den Bogen, zog einen Pfeil aus dem Köcher und legte ihn ein. Dann kniff er das eine Auge zu, zielte auf das Herz seiner Mutter und wollte den Pfeil gerade losschnellen lassen – da schob sich plötzlich ein anderer Mensch zwischen Angulimala und die alte Frau. Verärgert ließ der Mörder seinen Bogen sinken. „Wo kommt denn dieser Mönch plötzlich her?“, schimpfte er. Doch dann besann er sich eines Besseren: „Eigentlich kommt er wie gerufen. Wenn ich ihn töte, kann ich seinen Finger als 1000sten nehmen und meine Mutter bleibt am Leben.“ Er hob erneut den Bogen und versuchte auf das Herz des Mannes zu zielen. Doch es gelang ihm nicht. Denn dieser blieb einfach nicht stehen, sondern bewegte sich mal hierhin, mal dorthin. Also beschloss Angulimala, ihn mit seinen bloßen Händen zu erwürgen.

„Na warte, Bürschchen, gleich hab ich dich!“, rief Angulimala und rannte hinter dem Mönch her. Wenn dieser nicht mehr konnte, würde er stehen bleiben. Mönche waren nicht gewohnt, eine weite Strecke in schnellem Tempo zu gehen, und im Rennen waren sie schon gar nicht geübt. Es wäre es ein Leichtes für Angulimala ihn zu erwischen und dann zu erwürgen.

Doch der Buddha – kein anderer war dieser Mönch lief in aller Ruhe weiter, als ob er einen gemütlichen Spaziergang machen wollte. ‚Fingerkette‘ rannte und rannte, doch der Abstand zwischen ihm und dem Buddha verringerte sich um keinen Meter.

„Komisch!“, dachte Angulimala nach Atem ringend. „Früher war ich schneller als ein galoppierendes Pferd. Ich konnte sogar einen fliehenden Hirsch einholen. Was ist hier nur los?“

Wie schnell er auch lief, und wie weit er auf der Straße gekommen war, er konnte den Buddha einfach nicht einholen.

„Bleib stehen, Mönch!“, rief Angulimala außer Puste.

„Ich bin schon längst stehen geblieben“, rief der Buddha. „Halte auch du an!“

Angulimala konnte nicht mehr. Er japste nach Luft und hörte auf zu laufen. Seine Beine zitterten vor Anstrengung und in seinem Kopf sausten die Gedanken: „Diese Mönche sprechen immer die Wahrheit, sonst wären sie keine Mönche. Also hat er wohl angehalten. Doch warum geht er dann weiter?“

Er sah keinen Sinn in den Worten des Fremden. Deshalb rief er: „Was meinst du damit?“

„Genau das, was ich gesagt habe“, antwortete der Buddha freundlich: „Ich bin schon längst stehen geblieben, aber du nicht!“

„Aber das stimmt doch nicht!“ Angulimala war richtig wütend geworden. „Das kannst du doch mit eigenen Augen sehen, dass ich derjenige bin, der angehalten hat. Du bist der, der immer noch geht.“

Da antwortete der Buddha: „In mir ist Ruhe, Stille, Bewegungslosigkeit, kein Antrieb und Wunsch mehr, wütend zu sein. Du rennst von Ehrgeiz und Mordlust getrieben umher. Ohne nachzudenken und ohne Mitleid bringst du andere um. Du tust es, weil du wie unter Zwang stehst. In mir gibt es keine Zwänge mehr. Deshalb sage ich, dass ich schon seit vielen Jahren angehalten habe, für alle Zeiten.“

Verunsichert blickte Angulimala den Buddha an. Da stieg ihm der faulige Geruch der abgeschnittenen Finger in die Nase. Er nahm die Kette mit den 999 Fingern ab und starrte sie an. „Aber ich muss doch 1000 Finger bekommen. Erst dann gibt mir mein Lehrer an der Universität mein Abschlussdiplom. Ich muss es tun! Ich kann doch nicht einfach damit aufhören!“

„Du hast ihm das geglaubt und dann 999 Menschen umgebracht?“, sprach der Buddha mit ruhiger Stimme.

Es war, als ob Angulimala erst jetzt begriff, was er die ganze Zeit getan hatte.

„Du hast 999 Menschen getötet. Nur wegen dieser Kette“, sagte der Buddha, er stand jetzt neben ihm.

Zutiefst erschrocken über sich selbst stammelte Angulimala:

„A-a-a-ber, nicht wegen der Kette. Nur wegen des Abschlussdiploms.“

Der Buddha sagte nichts, sondern sah ihn weiter ruhig an.

„Ich wollte niemanden töten. Alles, was ich haben wollte, waren die Finger. Wegen der Kette. Wegen der Abschlussprüfung, wegen der Urkunde.“ Angulimala fühlte sich plötzlich total durcheinander. „Aber töten? Nein. Töten wollte ich niemanden!“ Er schüttelte heftig den Kopf.

„Du hast es dennoch getan. Du hast 999 Menschen umgebracht.“ Der Buddha ließ nicht locker.

Auf einmal war es, als ob von Angulimala viele, viele Schleier abfielen, die seinen Verstand und sein Herz verdunkelt hatten. „I-i-ihr seid der, von-von d-d-em die Leute sagen, er sei der Erleuchtete“, stotterte er.

Der Buddha betrachtete ihn schweigend.

„Ihr seid der Erwachte. Ihr seid meinetwegen in den Wald gekommen.“ Da fiel die letzte Verdunklung von Angulimala ab.

„Ich hätte meine Mutter getötet, wenn Ihr nicht gekommen wärt“, sagte er und war plötzlich totenbleich geworden.

Noch immer sagte der Buddha nichts.

Fingerkette, Illustration Tabea KrackowDa warf Angulimala alle seine Waffen weg und fiel auf die Knie.

„Bitte, zeige mir, wie man innerlich anhält. Ich will niemals wieder so unter Zwang stehen, dass ich sinnlos Böses tue. Ich will nie wieder töten!“

„Komm und folge mir“, sprach der Buddha. Er reichte Angulimala die Hand und zog ihn hoch, damit er neben ihm stand.

Fingerkette, Illustration Tabea KrackowNoch am selben Tag wurde Angulimala Mönch. Er bereute seine Taten zutiefst und zog sich in die Einsamkeit der Wälder zurück, um dort zu meditieren und ein Leben in Achtsamkeit zu führen. Er vermied es, auch nur dem kleinsten Lebewesen etwas zu Leide zu tun. Eines Tages entdeckten ihn Leute, die ihn von früher her kannten. Sie bewarfen ihn mit Steinen und prügelten ihn mit Stöcken halbtot. Schwer verletzt schleppte sich Angulimala zu dem Kloster, in dem der Buddha sich gerade aufhielt. Als dieser ihn sah, wies er seine Schüler an, Angulimala in die große Versammlungshalle zu tragen. Obwohl Angulimala schlimme Schmerzen litt, war sein Geist klar und sein Herz ruhig. Schließlich schloss er die Augen und starb.

„Wird Angulimala jetzt in der Hölle wiedergeboren?“, fragten die Schüler.

Buddha antwortete mit ruhiger Stimme: „Nein, er hat die Befreiung vom Kreislauf der Wiedergeburten erlangt.“
“Wie ist das möglich?“, die Mönche redeten aufgeregt durcheinander. „Er war ein Mörder!“ „Er hat fast 1000 Menschen umgebracht!“ „Nur wegen eines Diploms!“

Fingerkette, Illustration Tabea Krackow„Er tat es, weil sein Geist zutiefst verdunkelt war. Als es ihm bewusst wurde, was er getan hatte, bereute er aus der Tiefe seines Herzens und führte ein Leben voller Liebe und Achtsamkeit. Selbst ein schlimmer Mörder kann sich zum Guten bekehren.“

Betroffen verstummten die Mönche. Ehrfürchtig verneigten sie sich vor dem toten Ahimsaka, der früher ein Mörder gewesen war und nun die Erleuchtung erlangt hatte.

 

 

 

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